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05.07.2016

Ist Plastik schlichtweg schlecht? Prof. Kuchta und weitere Harburger Expertinnen und Experten redeten Tacheles.


Es gab Anregungen pur und viel Nachdenkliches beim HARBURG21-Vortrags- und Diskussionsabend "Plastik(tüten)frei – sei dabei!" am 30. Juni 2016 im Harburger Rathaus.

"Wir alle verbrauchen eine Billion Plastiktüten pro Jahr auf der Erde", eröffnete Jürgen Marek, Moderator des Abends und Lenkungsgruppen-Mitglied der Initiative  HARBURG21, vor etwa 50 Gästen am 30. Juni um 17.30 Uhr im Harburger Rathaus den Vortrags- und Diskussionsabend "Plastik(tüten)frei – sei dabei!", zu dem die nichtkommerzielle Initiative HARBURG21 im Rahmen der Harburger Aktionstage "HARBURG PLASTIKFREI – sei dabei!" eingeladen hatte. Laut Deutscher Umwelthilfe verbraucht jeder Einwohner in Deutschland 76 Plastiktüten pro Kopf und Jahr. Die damit verbundene Belastung unserer Umwelt trage nicht zur Lebensqualität von uns und unseren Kindern bei, so Marek. Aber natürlich gehe es nicht darum, Plastik per se zu verdammen. Marek: „Denn wenn wir uns alles Plastik aus unserer Umwelt wegdenken, da wäre hier nicht mehr viel. Ziel unserer Veranstaltung ist, Information und Austausch zu unserem Umgang mit Plastik zu bieten, nicht irgendwo in der Welt, sondern hier in Harburg."

"Kunststoffe können an vielen Stellen durchaus sinnvoll andere wichtige Rohstoffe, die wir haben, ersetzen", nahm Bezirksamtsleiter Thomas Völsch in seiner Begrüßungsrede den Faden wieder auf. Auch habe der Bezirk Harburg der Kautschuk-Industrie sehr viel zu verdanken. Ein anderes Thema aber sei die massenhafte Produktion von Plastiktüten und unser Umgang damit. So sei der Verzicht oder die Reduktion von Plastiktüten ein sehr wichtiger Schritt in Richtung Arten- und Umweltschutz. "Vögel und Meerestiere fressen die Plastikteile oder verheddern sich, um dann elend zu verenden", so Völsch. Zig Millionen Tonnen Plastik in den Meeren seien einfach zu viel. Völsch: "Es ist gut, dass wir jetzt in Deutschland die Entscheidung getroffen haben, dass wir etwas tun müssen. Und es ist gut, dass wir hierzu eine Aktionswoche machen " Viele örtliche Einzellhändler hätten bereits reagiert, indem sie Plastiktüten nur gegen Geld anbieten oder ganz darauf verzichten.


Plakatpräsentation "Produkte aus Plastik & deren Verweildauer im Meer" der AQUA-AGENTEN von der Schule Scheeßeler Kehre

Nach der Begrüßungsrede wurde es bunt. Sechs AQUA-AGENTEN, Dritt-Klässlerinnen und -klässler der Schule Scheeßeler Kehre, traten mit blaubedruckten T-Shirts und blauen Käppis nach vorne: Isabella, Lennard, Anton, Nicklas, Dennis und Fabian. Mit dabei ihre Lehrerinnen Yvonne Stein und Jutta Steinberg. Zunächst zeigten Anton und Lennard auf einem Plakat, das sie während ihrer Ferien an der Nordsee gebastelt hatten, was sie im Meer an Plastikmüll gefunden hatten: Plastikplanen, - tüten, Yoghurtbecher, Deckel, Fischernetze und vieles mehr. Auf dem zweiten Plakat aus dem Kunstunterricht mit Lehrerin Steinberg tummelten sich viele farbenprächtige Fische, die "mit vollem Bauch" an Plastik "verhungerten".

"Über Flüsse gelangt Plastik ins Meer. Oder Matrosen werfen Müll ins Meer. Ganz gefährlich sind Plastikplanen und Plastiktüten. Die Tiere verletzen sich", sagte Dennis. Fabian und Nicklas erklärten: " Ganz kleine Plastikteile nennt man Mikroplastik. Das ist giftig. Manche Fische fressen das. Dann wandern die gefährlichen Giftstoffe auch in unseren Körper." Einen Höhepunkt setzte Isabella, als sie einen Gast nach der Verweildauer einer Plastikflasche bis zur ihrer Zersetzung im Meer befragte. "Falsch, nicht 100 Jahre", korrigierte sie. "Es sind 450 Jahre".

Wir wünschen uns saubere Flüsse und Meere, war das Motto der Klasse. Die Schülerinnen und Schüler hatten auch gleich sinnvolle Vorschläge parat, was wir tun können: keine Plastiktüten mehr benutzen, Müll richtig entsorgen und wiederverwerten, Fischernetze aus Naturfasern herstellen, Müll am Strand sammeln, weniger Plastik herstellen und kaufen, Mehrwegverpackungen benutzen. Zum Abschluss begeisterten die blauen Käppis die Gäste mit einem selbst kreierten Song über das Schicksal zweier (Bio-) Plastiktüten, den sie mit ihrer Lehrerin Steinberg eingeübt hatten.

Das Projekt AQUA-AGENTEN gehört zum Bildungsangebot der Michael Otto Stiftung für Umweltschutz mit HAMBURG WASSER als Hauptpartner. Nach so viel Einstimmung in die Thematik waren natürlich alle auf den Vortrag "Plastik in der Kreislaufwirtschaft – Chancen, Herausforderungen, Grenzen“ von Prof. Dr.-Ing. Kerstin Kuchta von der Technischen Universität Hamburg-Harburg sehr gespannt.


Vortrag "Plastik in der Kreislaufwirtschaft – Chancen, Herausforderungen, Grenzen“ von Prof. Dr.-Ing. Kerstin Kuchta von der TUHH

"Zwei Drittel Ihres Plastikabfalles und 100 Prozent Ihrer Plastiktüten gehen in Deutschland in die energetische Verwertung, werden also verbrannt. Das ist nicht ganz schlecht. Denn es ist ja Öl. Und es wird zur Energie. Aber wir können mehr. Wir wollen mehr." Die Expertin in Sachen Abfallressourcenwirtschaft machte deutlich, dass die Wiederverwertung von Kunststoffen "eine letzte Herausforderung der Abfallressourcenwirtschaft" darstellt. Obwohl in Deutschland pro Jahr 20 Millionen Tonnen Kunststoffe zum Einsatz kommen, werden heute nur etwa 30 Prozent als Rohstoffquellen wiederverwertet. Das betrifft auch die Kunststoffe, die wir in unserer Wertstofftonne entsorgen. 5,7 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle werden entsorgt. Kuchta: "Wenn Sie die Plastiktüte nehmen, die nach einer durchschnittlichen Nutzung von nur 25 Minuten in die Verbrennung geht, ist das zu kurz. Da muss noch mehr möglich sein. Und daran arbeiten wir."

Nach dem neuen Verpackungsgesetz des Gesetzgebers (Entwurf) sollen in Zukunft mindestens 63 Prozent der Kunststoffe werkstofflich verwertet werden. Laut Kuchta sind die technischen Möglichkeiten für die Sortierung vorhanden, aufgrund der niedrigen Rohölpreise und der niedrigen Akzeptanz des Verbrauchers für Recycling-Produkte können aber aufwendig aus Kunststoff zurückgewonnene Rohstoffe zur Zeit noch "keine Märkte besetzen". Ein weiteres Problem sei, dass der Kunststoff durch die diversen Wiederaufbereitungen stufenweise an Qualität verliere.

Es gibt aber, so Kuchta, noch ein anderes massives Problem: Neue Kunststoff-Produktionsarten stellen "laufend neue Anforderungen an das Recycling". Denn gewisse Kunststoffarten in ein- und demselben Produkt lassen sich nur sehr schwer trennen. Auch die glasfaserverstärkten Kunststoffe etwa "sind nicht richtig schön im Recycling". Der karbonfaserverstärkte Kunststoff hingegen, wie er in der Luftfahrt- und Automobilindustrie zum Einsatz kommt, "ist zwar ein toller Werkstoff, aber im Recycling ein Teufelszeug". Er lässt sich nach Kuchta zur Zeit überhaupt nicht wiederaufbereiten und setzt bei der Verbrennung ganze Müllanlagen in Brand. Da er in Form schicker Handy-Hüllen oder anderer Verpackungen längst den Hausmüll erreicht hat, stehen wir – ähnlich wie bei der Asbestfaser – zur Zeit vor einem unlösbaren Problem. Kuchta: "Wir produzieren laufend neue Wertstoffe – und das immer schneller, aber keiner denkt darüber nach, was wir damit hinterher machen." Bei jährlich 300 Millionen Tonnen neu produziertem Kunststoff weltweit und rund 50 Millionen davon in Europa ist insbesondere der karbonfaserverstärkte Kunststoff "wissenschaftlich eine große Herausforderung".

Kuchta endete ihren Vortrag mit einem Plädoyer: "Metall geht unendlich in den Kreislauf, Papier sieben Mal, bis die Faser zu kurz ist. Kunststoff sollten wir wenigstens drei bis viermal nutzen können, bevor er den Kreislauf verlässt."

Die anschließende Fragerunde zum Vortrag machte klar: 1. Kunststoffteile gehören auch dann in die Wertstofftonne, wenn sie noch leicht verschmutzt sind. Sie sollten zuvor nicht mit frischem Wasser ausgewaschen werden. Denn auch Wasser ist eine kostbare Ressource. Stark verschmutzte Kunststoffe wie stinkende Kunststoffbecher oder stark verdreckte Ketchup-Flaschen gehören allerdings in den Restmüll. 2. Ökologische Kunststoffe aus Pflanzenfasern, wozu auch die sogenannten biologisch abbaubaren Plastiktüten gehören, sind, so Kuchta, beim Recycling bislang noch "ein ungeliebtes Kind". Denn es fehlen noch schlichtweg die Sortiermaschinen, die diese erkennen und aussortieren. Sie sollten daher, so schade es auch ist, zur Zeit noch in den Restmüll. 3. Mikrokunststoffe, wie sie auch im Meer schwimmen, lassen sich mit den heutigen technischen Mitteln, nicht entsorgen. Sie bleiben – wohl auch aufgrund ihrer hohen Schadstoff-Bindungsfähigkeit –  ein großes ökologisches Problem.


Expertenrunde und Diskussion


Worin liegt der Sinn eines plastiktütenfreien Tages oder einer plastiktütenfreien Woche? Gibt es gute Alternativen zu Plastiktüten? Und was können wir in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen tun? Um diese Fragen kreiste der Runde Tisch, zu dem Moderator Marek Expertinnen und Experten aus den Bereichen Bildung, Politik, Wirtschaft und Lokale Agenda 21 nach dem Vortrag von Kuchta einlud. Teilnehmende waren Prof. Kuchta, Nicole Rust, Lehrerin der H10 mit Schülerin Nina Farchau vom 11. Jahrgang des Beruflichen Gymnasiums, Sven Ihling, Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz, Marcel Sack, Geschäftsführer der Kock + Sack GmbH und Frank Wiesner, Vorsitzender des Fördervereins HARBURG21.

Alle Beteiligten waren sich darin einig, dass Aktionen zum Thema Plastik das Bewusstsein in der Öffentlichkeit stärkt, umso mehr, wenn diese wie hier von Politik und Verwaltung unterstützt werden. Aktionen wie der Stoffbeutel-gegen-Plastiktüten-Tausch, wie er etwa von den sogenannten RUK-Agenten der Schule H10 am 29. Juni an diversen Harburger Plätzen durchgeführte wurde, dienen als ein einprägsames Symbol für die Abkehr von der schnelllebigen Wegwerfplastik sprich Plastiktüte hin zur Mehrfachnutzung unseres durchaus wichtigen Wertstoffs Plastik, der aus dem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Auch der Einzelhandel profitiert von solchen Aktionstagen. Sack: "Wir Einzelhändler brauchen Anstöße zum Nachdenken. Auch können wir in einer Projektwoche das Thema Plastik gemeinsam angehen, um zum Erfolg zu kommen."

Eine gute Alternative für die einmal genutzte Plastiktüte ist nicht die einmal genutzte (vielleicht noch reichlich bedruckte) Papiertüte, so Kuchta. Wir müssen kurze, vermeintlich ökologische Lösungen vermeiden lernen und unsere Gewohnheiten ändern. Eine bessere Alternative ist, wie die Harburger Schule H10 vormachte, der langfristig genutzte Stoffbeutel, zumal wenn er fair gehandelt ist, oder die Mehrwegplastiktüte, idealiter aus einer einzigen Kunststoffart oder aus gut trennbaren Kunststoffen, aber ohne karbonfaserfreiem Kunststoff. (Dazu benötigte es natürlich klare Deklarationen.) Ein schönes Beispiel für fair gehandelte Stoffbeutel boten Rust und ihre RUK-Agenten im Treppenaufgang des Harburger Rathauses, wo sie ihre "RUK-with-uns!"-Taschen und ihre Ausbeute an ausgetauschten Plastiktüten vom Sammeltag präsentierten.

So weit so gut. Eine wichtige Frage aus dem Publikum blieb aber noch unbeantwortet. Reicht die Selbstverpflichtung der Händler in Deutschland aus, um den heutigen Plastiktüten-Verbrauch von 76 Plastiktüten pro Kopf und Jahr zu reduzieren? Oder brauchen wir eine gesetzliche Regelung? Laut Sack benötigen wir "definitiv" eine Reglementierung des Plastiktüten-Verbrauchs vonseiten der Politik, um die Angst der Einzelhändler vor Wettbewerbsnachteilen zu zerstreuen. Auch die anderen Expertinnen und Experten schlossen eine mögliche Reglementierung nicht aus. Laut Ihling etwa fallen bei einer staatlichen Regelung möglicherweise gewisse Gewinn-Mitnahmen weg, aber Gewinner seien die Umwelt und unsere Gesundheit. Wiesner dagegen möchte – da sich Gesetze nicht von jetzt auf eben beschließen lassen – zunächst auf Aktionen wie diese setzen, um einen allgemeinen Bewusstseinswandel einzuleiten.

Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche staatliche Plastiktüten-Reduzierung ist Dänemark, das seit 1994 aufgrund einer staatlich eingeführten Abgabe-Pflicht mit vier Plastiktüten pro Kopf und Jahr den niedrigsten Plastiktüten-Verbrauch hat. Ein weiteres gutes Beispiel ist Irland, wo sich der Pro-Kopf-Verbrauch durch die eingeführte 22 Cent-Abgabe von 328 Tüten auf 16 Tüten reduzierte.

"Ich habe heute viel gelernt", war eine der vielen positiven Stimmen, die nach der Veranstaltung zu hören waren. Bei Bio-Käsestangen von der Bioinsel Harburg und fair gehandelten Schoko-Snacks vom Weltladen Harburg wurde unter den Gästen noch lebhaft weiterdiskutiert.


Fazit:

Das Fazit der gelungenen Veranstaltung könnte heißen: Plastik ist nicht grundsätzlich böse, aber darum auch nicht einfach nur gut. Das entscheidende Kriterium für eine gute ökologische Bilanz ist die Mehrfachnutzung. Mehrweg statt Einweg als (derzeit einzig) richtiger Weg.

Hier gibt es für die Politik noch viel zu tun. Aber beginnen können wir zunächst nur bei uns selbst. Indem wir uns eingehend informieren und unsere Gewohnheiten im Umgang mit Plastik(tüten) langfristig ändern.


Text: Gisela Baudy
Fotos: Chris Baudy (4,11), Gisela Baudy (1-3,5-10,12-14)

Links:
> Plastikfrei - Harburg war dabei! -
Harburger Aktionstage "HARBURG PLASTIKFREI - sei dabei!" (27.06.-03.07.16)
> Ankündigung des Vortrags- und Diskussionsabends "Plastik(tüten)frei - sei dabei"
> Was tun (Sie) gegen Plastikmüll? - Info- und Mitmachstand von HARBURG21 am 3. Juli 2016

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